Zum zweiten Mal vertrieben

Die Stadt will Häuser in Marienburg verkaufen / Mieter, die kein Geld haben, müssen ausziehen.

Hildesheim (cha). Sie sind nach dem zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat vertrieben worden und haben auf dem Gelände der Domäne Marienburg eine neue Heimat gefunden. Doch für Horst Zettelmann und einige seiner Nachbarn ist diese Odyssee offenbar noch immer nicht beendet. Die Stadt will sich von den Häusern in der Domänenstraße und der Beusterstraße trennen. Den teils Jahrzehntelangen Mietern hat sie zu verstehen gegeben, daß sie die Objekte kaufen können – und ansonsten das Feld im Sommer 2014 zu räumen hätten.
Die Stadt will sich von den Häusern in der Domänenstraße und der Beusterstraße trennen. Den teils jahrzehntelangen Mietern hat sie zu verstehen gegeben, dass sie die Objekte kaufen können – und ansonsten das Feld im Sommer 2014 zu räumen hätten. Die Stadt ist seit 2005 Eigentümerin der Grundstücke.

Damals kaufte sie das ehemalige Domänen-Gelände vom Land Niedersachsen und verpachtete es an einen Landwirt. Dieser bewirtschaftet das Land seit dieser Zeit, die Häuser vermietet er. Die Stadt will die Flächen weiter an den Landwirt verpachten. Doch von den teilweise maroden Häusern will sie sich so schnell wie möglich trennen. Sie hat dem Rat vorgeschlagen, alle Häuser und Grundstücke zu einem Paket zu schnüren und dies zu einem Mindestpreis von einer halben Million Euro anzubieten. Der Rat gab in nichtöffentlicher Sitzung grünes Licht für das Projekt.

Es gibt Mietverträge über die elf Objekte, die sich – auf sechs Häuser verteilt – entlang der Beuster- und der Domänenstraße ziehen. Und diese Mietverträge enthalten eine Befristung bis zum Juni 2014. Die war auch den Mietern bekannt. „Aber ich hätte nicht gedacht, dass sie einmal greifen wird“, sagt Horst Zettelmann. Er lebt seit 1966 mit seiner Frau Hannelore in dem Vier-Parteien-Haus in der Beusterstraße. Als Vertriebener war er 1946 aus Niederschlesien in Marienburg eingetroffen. Helmut Graf Senior brauchte damals Helfer für seinen landwirtschaftlichen Betrieb. „So ist Marienburg meine neue Heimat geworden“, erinnert sich der 77-Jährige.

Das Rathaus hat ihm das Vier-Parteien-Haus für 253 000 Euro zum Kauf angeboten. Doch von seiner schmalen Rente kann er diesen Betrag nicht aufbringen. In einem sehr deutlichen Telefonat habe ihm ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung zu verstehen gegeben, was das bedeutet. „Dann müssen sie eben ausziehen“, zitiert Zettelmann den Satz des Verwaltungsmitarbeiters. Einige der Mieter suchen nach neuen Wohnungen. Andere, neben Zettelmann auch sein 76-jähriger Nachbar Karl Heinz Stehneke, haben sich an den Mieterverein gewandt. Dort zeigt man sich entsetzt über das Verhalten der Stadt. Das Rathaus gehe äußerst unsensibel mit den Leuten um, findet Mieterverein-Geschäftsführer Volker Spieth. „Bei Hochglanz-Wohnprojekten sonnt sich unser Oberbürgermeister im Erfolg, und hier in Marienburg läßt Kurt Machens die Menschen mit ihrem Problemen allein“, wettert er. Er will die rechtlichen Voraussetzungen jetzt prüfen. Denn: „Verkauf bricht nicht Miete“, sagt der Geschäftsführer. Im Klartext heißt das: Der neue Eigentümer müsste die Mieter theoretisch zunächst übernehmen. „Wir hoffen, dass wir die Pläne der Stadt noch abwehren können.“ Das Rathaus gibt sich in dieser Sache einsilbig.

„Grundstücksangelegenheiten behandelt die Stadt grundsätzlich vertraulich“, sagt Stadtsprecher Helge Miethe.
Bei Zettelmann und vielen seiner Nachbarn wächst die Sorge. Einige haben viel Geld und Arbeitskraft in die Häuser investiert. Und sie haben einen Großteil ihres Lebens hier verbracht. „Vor 10 Jahren hätte ich vielleicht noch darüber gelacht und mir eine neue Wohnung gesucht“, sagt Zettelmann. Am Ende des achten Lebensjahrzehnts sei das etwas anderes. „Wer will sich denn einen 77-jährigen in die Wohnung holen?“

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(c) 2013 Hildesheimer Allgemeine Zeitung vom 24.08.2013