Fahrenheit – koste es, was es wolle

Vorzeigeviertel statt sozialer Brennpunkt: Was die Investoren angekündigt hatten, klang gut. Doch den Preis zahlen nicht zuletzt die Mieter. Wohnen im Fahrenheitgebiet – nicht jeder kann sich das noch leisten.
(Sara Reinke / Julia Schlemeyer)

Den Schornstein hatten sie schon abgerissen, aber Martha Jolowski* meinte es ernst: Sie wollte ihren Kohleofen behalten. Nicht, weil sie es toll findet, den ganzen Winter über Tag für Tag eimerweise Briketts aus dem Keller durch das Treppenhaus bis in den zweiten Stock zu schleppen. Nicht, weil es ihr gefiele, dass der feine schwarze Staub trotz aller Sorgfalt in jede kleine Ritze ihres sonst peinlich sauberen Wohnzimmers kriecht. Aber weil sie mit dem instinktiven Misstrauen von einer, die nun mal keinen Cent zu verschenken hat, ahnte, dass da was nicht stimmen konnte.

Eine voll sanierte Wohnung hatte ihr die Firma Wertinvestition versprochen, 2005 war das. Drei statt der bisher zwei Zimmer, Zentralheizung, Wärmedämmung, Balkon – und das alles, ohne dass die Miete nennenswert steigen würde. Ein Mitarbeiter der Immobiliengesellschaft war zu ihr in die Wohnung gekommen und hatte in leuchtenden Farben das Bild gemalt von einem schicken, optisch, energetisch und imagemäßig aufgehübschten Viertel, von dem Jolowskis Wohnung dann Teil sein würde.

Seit mehr als 30 Jahren lebt die 57-Jährige im Fahrenheitgebiet, und fast genauso lange lebt sie von Sozialhilfe. Ihre Miete zahlt das Jobcenter, und das stellt Bedingungen. Größer als ihre 50 Quadratmeter darf „angemessener Wohnraum“ für die alleinstehende Frau nicht sein. Eine Zusammenlegung mit der Nachbarwohnung würde ihr nur Ärger bringen. Jolowski wollte keinen neuen Mietvertrag. Sie wollte ihre Ruhe.

Durch Martha Jolowskis Wohnzimmerfenster blickt man auf gelb getünchte Fassaden, bunte Balkone, ein Stück vertrockneten Rasen und die Fahrenheitstraße. Zwei Frauen mit Kinderkarren laufen vorbei, auf dem Weg Richtung Spielplatz vielleicht. Das leise Gemurmel ihres Gesprächs dringt bis in Jolowskis Wohnung hoch. Das Fenster steht auf, es ist warm draußen. Ein alter Mann schiebt einen geklauten Einkaufswagen voller Lidl-Tüten die Straße entlang. Drinnen bläht sich die dünne, weiße Gardine im Sommerwind. Unter dem Fenster steht eine schwarze Kunstleder-Couch und dahinter, auf dem schmalen Teppichstreifen zwischen Couch und Fensterbank, steht Martha Jolowski. Und guckt auf den Balkon, den sie hätte haben können.

„Acht Quadratmeter, davon würden vier zur Wohnfläche gezählt“, rechnet die 57-Jährige vor. Bei einer Kaltmiete von fünf Euro pro Quadratmeter müsste sie jeden Monat allein 20 Euro für den Balkon zahlen. „Wozu? Dafür, dass ich dann auch noch den Dreck wegmachen darf, den die Nachbarn von oben runterschmeißen?“ „Soziale Stadt“ nennt sich das staatliche Förderprogramm, das die Firma Wertinvestition für den Umbau des Wohngebiets rund um die Fahrenheitsstraße angezapft hat. 1,4 Millionen Euro sind dafür geflossen, eine halbe Million Euro war allein der Stadt Hildesheim die Hoffnung wert, den sozialen Brennpunkt per Vorschlaghammer zum Vorzeigeviertel zu machen. Doch stattdessen schuf die Modernisierung neue Probleme.

Sozialarbeiter Jörg Piprek arbeitet seit zwölf Jahren im Fahrenheitviertel – „und zwar gern“. Der 42-Jährige mag den fast dörflichen Charakter des Stadtteils, in dem die Nachbarn im Sommer auf dem Max-Eyth-Platz zusammenkommen und im Winter im Begegnungszentrum Broadway Plätzchen backen. Viele leben schon seit Jahrzehnten hier. Doch nun verlassen immer mehr Alteingesessene das Viertel – oft gegen ihren Willen, beobachtet Piprek. „Etliche Mieter, die eigentlich gern bleiben würden, können ihre Wohnungen wegen der gestiegenen Nebenkosten nicht mehr halten.“ Die, die neu kommen, seien meist Studenten und andere Zuzügler von außerhalb, die den Straßennamen auf dem Stadtplan suchen, über das soziale Umfeld aber nichts wissen. Sie bleiben meist nicht lange. Die Fahrenheitler sind eben eine Gemeinschaft für sich. Doch die droht nun auseinanderzubrechen.

Im Jahr 2004 hatte die Gemeinnützige Baugesellschaft ihre 420 Fahrenheit-Wohnungen an die Immobiliengesellschaft Wertinvestition verkauft. Wertinvestition sanierte und verkaufte die Immobilien dann weiter – an insgesamt rund 400 Eigentümer bundesweit. Die wiederum haben das Unternehmen Rentei damit beauftragt, sich um die Verwaltung vor Ort zu kümmern. Grünpflege und Instandhaltungsarbeiten zu organisieren, Mietverträge aufzusetzen, Nebenkosten abzurechnen – und auch: Kündigungen zu schreiben.

Eine davon ging an Christina Napolitano. Die 42-jährige Sintiza hat eine Wohnung wie aus dem Einrichtungskatalog. Pastellfarben gestrichene Wände, farblich aufeinander abgestimmte Möbel, Kronleuchter, Keramikschale, Kerzenständer. Auf dem Wohnzimmertisch liegt das letzte Schreiben der Rentei. Viermal ist Napolitano in ihrem Leben bisher umgezogen, nie weiter, als man die Möbel auch zu Fuß hätte tragen können. Fahrenheitstraße 15, ihre aktuelle Adresse, ist nur einen Hauseingang von der früheren Wohnung ihrer Eltern und jetzigen Wohnung ihrer Cousine entfernt. Gleich gegenüber wohnt eine ihrer Schwestern, schräg gegenüber die andere. Und überall um sie herum ihre Freunde. Nun sieht es so aus, als würde der fünfte Umzug sie in eine ganz andere Ecke der Stadt verschlagen. Das Fahrenheitgebiet kann sie sich nicht mehr leisten. „Vor der Sanierung hieß es, die Nebenkosten würden sogar sinken“, erinnert sich Napolitano. Und tatsächlich sahen die Verträge anfangs sehr geringe Vorauszahlungen für Heizung und Warmwasser vor.

Doch nach dem ersten Jahr kam die Ernüchterung: Nachzahlungsforderungen von mehr als 1000 Euro flatterten manchem Fahrenheitler ins Haus. Gleichzeitig erhöhte die Rentei die monatlichen Abschläge, Napolitano spricht von rund 900 Euro mehr pro Jahr. Während die Kaltmiete sich wie zufällig eng an die vom Jobcenter tolerierte Höchstgrenze für Wohngeldempfänger schmiegt, stieg die Warmmiete im Fahrenheitgebiet auf durchschnittlich acht Euro. Und damit laut Mieterverein auf einen der höchsten Werte in Hildesheim. Ausgerechnet in einem Umfeld, wo nach Schätzung von Geschäftsführer Volker Spieth etwa zwei Drittel der Bewohner von Sozialleistungen leben und die, die arbeiten, meist im Niedriglohnsektor tätig sind.

Gentrifizierung, diesen Begriff benutzen Soziologen und Stadtplaner, um einen Prozess zu beschreiben, bei dem ein stadtnahes, aber vernachlässigtes Wohnumfeld so lange baulich aufgemöbelt wird, bis die Altmieter sich die höheren Wohnkosten nicht mehr leisten können und besser situierte Interessenten nachrücken.

Verdrängung durch Aufwertung: Spieth glaubt, dass genau das im Fahrenheitgebiet gerade geschieht. Die gelernte Frisörin Martha Jolowski mag das Wort Gentrifizierung nicht kennen. Seine Bedeutung aber hat sie früher verstanden als andere. Mit aller Macht und dem Mieterverein im Rücken setzte sie sich gegen die Sanierung ihrer Wohnung zur Wehr. Zweimal wurde ihr gekündigt, viermal musste sie ihr Anliegen vor Gericht durchboxen. Am Ende musste die Immobilienfirma den Schornstein über ihrer Wohnung wieder hochmauern lassen. Im Jahr 2012 heizt die 57-Jährige mit Kohlebriketts und trauert ihrem holzbefeuerten Badeofen hinterher. Den hatten die Bauarbeiter gleich zu Beginn mitgenommen, als der Investor wohl noch davon ausging, Jolowski die Bedenken gegen die Modernisierung
schon ausreden zu können.

Wenn sie erstmal den schönen Balkon vor dem Wohnzimmer hätte, vielleicht. Jolowski lehnt an der hüfthohen Fensterbrüstung und reibt einen unsichtbaren Schmutzfleck vom Sims. Den Balkon haben sie trotzdem vor ihre Fassade gesetzt, war wohl einfacher so. Sie kann ihn sehen, sie kann das Geländer anfassen. Wenn sie sich weit genug hinauslehnt, könnte sie vielleicht einen Blumenkasten anbringen oder ihre Getränke unter dem Fenster kaltstellen. Aber sie kann den Balkon nicht betreten. Es gibt keine Tür. Aus einem Auto mit getönten Scheiben wummern die Bässe irgendeines Techno-Songs bis in den zweiten Stock hoch. Jolowski macht das Fenster zu. Sie hat jetzt, was sie wollte: ihre Ruhe.

Nach einem langen, für alle Seiten kräftezehrenden Rechtsstreit hat die Firma Wertinvestition um sie herum saniert. Dafür beträgt ihre Miete nur rund ein Drittel von dem, was ihre Nachbarn zahlen. Kein einziger der anderen Mieter ist nach der Sanierung in ihr Sechs-Parteien-Haus zurückgekehrt. Nur wenige wohnen überhaupt noch im Viertel. Zu den neuen Nachbarn hat Jolowski keinen Kontakt. Wenn Christina Napolitano durch ihr Viertel schlendert, grüßt sie dagegen jeden mit Vornamen. Hussein, den türkischen Nachbarn, der hinter dem Haus einen kleinen Garten angelegt hat und an einer grünen Schwengelpumpe gerade Wasser für seine Tomaten holt. Alia, die junge Deutsch-Pakistanerin, die vom Balkon runterwinkt und deren kleiner Sohn Samir gern mit Napolitanos Nichte Gisèle spielt. Sie grüßt Hakim, den Syrer, der an der Bushaltestelle sitzt und Leute beobachtet. Ein bisschen verwirrt ist der, aber immer freundlich. Sie grüßt Jörg, den deutschen Sozialarbeiter. Und Holger natürlich, den Hausmeister und „die gute Seele von Fahrenheit“, wie Napolitano sagt.

Holger Zajons, wie er mit vollem Namen heißt, hat gerade Urlaub, rollt aber trotzdem mit seinem Auto durch die Fahrenheitstraße, um mal nach dem Rechten zu sehen. Für alle früheren gbg-Wohnungen ist er zuständig, inzwischen arbeitet er für die Verwaltungsfirma Rentei. Er kennt fast jeden Mieter hier, die meisten Vermieter aber kennt er nicht. „Die kommen hier nicht vorbei.“ Seit 15 Jahren sieht Zajons die Menschen im Fahrenheitgebiet kommen und gehen. Zuletzt vor allem gehen. Etliche Wohnungen stehen leer, die Rentei spricht von zehn Prozent. Dazu kommt eine ungenannte Anzahl an Wohnungen, die nach dem Auszug der letzten Bewohner erst renoviert werden sollen, bevor die Eigentümer sie wieder zur Miete anbieten.

„Die da drüben ist leer, die auch“, zählt Zajons auf und weist mit ausgestrecktem Arm auf leere Fenster und kahle Balkone, „und da hinten in dem Haus auch: leer, leer, leer.“ Christina Napolitano, die sich schon nach einer kleineren, kostengünstigeren Wohnung umgesehen hat, wurde trotzdem nicht fündig. „Unter 500 Euro kalt war nichts dabei.“ Zuviel für eine, die von einer Grundsicherungsrente lebt. Sie fragt sich jedoch, wer stattdessen hierherziehen soll. „Kein Arzt oder Anwalt will schließlich in der Fahrenheitstraße wohnen.“

Das Jobcenter hat Kunden im Fahrenheitgebiet nahegelegt, sich nach einer anderen Bleibe umzusehen. „Das Projekt ‚Soziale Stadt‘ ist gescheitert“, urteilt Mietervereins-Geschäftsführer Spieth, der als Ratsherr der Grünen zugleich auch die politische Dimension des Stadtteilumbaus im Blick hat. „Ein interessantes Modell“, sagt er ironisch, „erst hat sich der Eigentümer aus öffentlichen Kassen das Umfeld sanieren lassen, Steuererleichterungen in Anspruch genommen und Mieten bis zur Angemessenheits­grenze vom Jobcenter kassiert – und nun setzt man die Leute vor die Tür.“

Bei der Rentei sieht man das naturgemäß etwas anders. Von „absoluten Einzelfällen“ ist da die Rede, in denen es ernsthafte Probleme gäbe. Unter 420 Mietern seien vielleicht fünf von extrem hohen Nachzahlungsforderungen betroffen. Und die hätten durch übermäßigen Verbrauch einen Großteil der Kosten selbst verursacht. Anders als vom Mieterverein dargestellt, seien die Gebühren, die die Rentei beeinflussen kann, nicht höher als in anderen Stadtteilen – mit Ausnahme des Bereichs Gartenpflege. „Das ist aber einfach der Größe der Grundstücke geschuldet“, sagt Geschäftsführer Marcus Klecher. Wie die gbg das günstiger regeln konnte? Ganz einfach: „Wenn man den Rasen nicht mäht und den Schnee nicht wegräumt, entstehen auch keine Kosten.“

Christina Napolitano findet nicht, dass die Grünflächen jetzt besser gepflegt wirken als früher. Und wenn das den Unterschied ausmacht, würde sie auch lieber wuchernde Hecken in Kauf nehmen als wuchernde Preise. Während Nichte Gisèle mit Nachbarkind Samir auf dem Spielplatz tobt, reißt Napolitano gedankenverloren ein Grasbüschel aus dem Sand. „Ich weiß, dass das Fahrenheitviertel einen schlechten Ruf hat“, sagt sie. „Aber ich möchte trotzdem nicht wegziehen. Ich liebe es hier.“

*Name geändert

 

—————————————————————————————————————————
(c) 2012 Hildesheimer Allgemeine Zeitung vom  21.07.2012
                Von Sara Reinke / Julia Schlemeyer